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barac, 10.-12. september 1999:

Anfang August. Knapp zwei Stunden Autobahnfahrt von Hamburg entfernt, treffen sich Kollegen einer Unternehmensberatung und deren Freunde zu einem Segelwochende. Treffpunkt ist ein Internat an einem Nebenarm der Schlei.

Das Internat war einst ein Adelsgut. Schöne alte Gebäude. Schöne alte Bäume. Am Kai liegen die Boote. Es sind antiquierte Holzkutter, zweimastig mit Gaffelrigg. Gesteuert wird mit der Pinne. Die Boote gehören zum Internat. Unser jugendlicher Skipper geht dort zur Schule.

Der Junge ist vielleicht 14 Jahre alt, gross und dünn. Er ist ein wenig schüchtern und weiss nicht recht, wie er mit uns Erwachsenen umgehen soll. Seine Kommandos klingen etwas unentschlossen. Dennoch macht er seine Sache sehr gut. Wir gewöhnen uns schnell an die Eigenschaften des Kutters und lösen einander an der Pinne ab. Mir gefällt es, barfuss auf dem Holzdeck zu stehen.

Über das Wochenende gesellt sich noch ein weiterer Junge auf unser Boot. Er ist noch jünger. Eigentlich sollte er Skipper eines anderen Bootes sein. Er hat das aber nicht gemeistert und wurde abgelöst. Man sieht, dass das an ihm nagt. Beide versuchen sich in unserer Gesellschaft zu behaupten und klopfen ein bisschen zu starke Sprüche. Sie freuen sich aber, wenn man auf sie eingeht und ihnen Fragen stellt. Der Kleine ist das ganze Jahr über im Internat; der Grosse geht hier nur zu Schule und lebt bei seiner Mutter im Ort. Der Kleine sagt selbst, dass er hierher abgeschoben wurde. Er ist Berliner. Seine Eltern haben viel Geld, aber wenig Zeit. Er sei gerne hier, sagt er. Hier habe er seinen Platz und hier kümmere man sich um ihn. Er habe Freunde und die Boot-AG in der er stecke, fordere ihm viel ab. Nein, so was wie Heimweh fühle er nicht. Sein Mitschüler nickt zustimmend. Sie sind bei diesem Thema sehr ernst. Internat riecht doch immer ein wenig nach Kindheitstrauma. Ich glaube den beiden schon, dass sie sich hier wohl fühlen. Der kleine Berliner hat aber gewiss sehr kämpfen müssen.

Das Wochende vergeht. Unser Boot läuft ruhig dahin. Die Unternehmensberater kamen nicht aus ihren Jobs heraus. Ihre Gespräche drehten sich immer wieder um die Firma und - ein oft gehörtes Wort - um Projekte. Ein Boot ihrer Gruppe kommt auf. Sie überholen uns. Gejohle. Ihre lautstarke Fröhlichkeit wirkt aufgesetzt. Als könnten sie Ruhe nicht vertragen. Ich blicke auf den kleinen Berliner. Der Junge schweigt. Der hat es gelernt, mit Ruhe umzugehen, denke ich.

Tanja schaut wieder herüber und lächelt mich an. So liegt sie schon die ganze Zeit auf dem Vordeck.

Mein Blick streicht über die straffen Segel. Ich lasse die Gedanken baumeln. Bei aller Schönheit, die heute diesen Ort auszeichnet, wird mir doch klar, dass ich hier nicht hätte aufwachsen wollen. Gut, so einen Fluss gab es bei mir nicht; segeln konnte ich erst viel später lernen und vielleicht haben die Kinder hier auch mehr Freunde. Aber wie ernst die Jungen seien können...so ernst konnte ich in ihrem Alter nicht sein. Ich musste es nicht sein. Oder wäre ich gerne ein Unternehmensberater, so wie die vielen anderen hier? Wenn ich Sie hier so betrachte, in ihrer artigen, kollegialen Freizeitlaune, dann beantwortet sich auch diese Frage. Bestimmt ist es ungerecht, doch ich glaube, sie kennen auch nicht mehr als den Mikrokosmos ihrer Arbeitswelt. Es ist nicht so, dass ich besseres anzubieten habe. Aber diese bestimmte Form ihres Selbstvertrauens vermag ich leider nicht aufzubringen. Und Tanja? Ich bekomme sie schon mit, ihre kleinen Signale. Und sie ist hübsch. Ja, wenn das hier in dieser Urlaubsatmoshäre so weiterginge... Aber heute abend werden wir wieder zuhause in Hamburg sein. Und morgen oder übermorgen wäre ich ihrer schon überdrüssig. Danke, nein danke!

Ich strecke mich, als wäre ich aus dem Schlaf erwacht. Das Wasser gurgelt im Schwertkasten des Kutters. Gross- und Besansegel sollten wir dichter holen. Wenden, denke ich zufrieden, ist noch lange nicht nötig. Alles läuft prima.

weiter am 24. november 2001