voriger eintrag

Boeni, 20. juni 2000:

Und ich?

Auf jeden Fall habe ich alle Löcher, in die ich mal gefallen war, hinter mir gelassen. Ich habe keinen Grund, mich zu beschweren. Und doch nagt an mir Unruhe, die Sehnsucht nach einem bedingungslosen Aufbruch, hin zu einer diffusen Mischung aus Kunstwerk, politischem Aktionismus und mehr Gerechtigkeit, die über das pure Wohlbefinden, das Leben im Hier und Jetzt hinausgeht. Ich suche nichts weniger als den Weg, das Bandprinzip der Popmusik auf die Politik anzuwenden. Politik mit künstlerischen Mitteln zu machen. Doch immer wieder finde ich mich in der Rolle des grimmigen Bandleaders, der seine faule, unernste Truppe zur Probe treibt, unter Drohungen auf die Bühne hievt, dessen Enthusiasmus bei den anderen nur ein Strohfeuer zu entfachen scheint. Wenn ich mich vor etwas fürchte, dann davor, ein Vorhaben alleine bewältigen zu müssen. Das ist das schlimmste: als Einzelkämpfer eine Idee voranzutreiben.

Phiesta ist neben km 21.0 meine zweite Hoffnung, eine Art Beatles des Kunst-Politik-Lebens zu finden. Aber ich träume. Die anderen kommen mir vom Zeitgeist indoktriniert vor, der ihnen befiehlt, ihren Blick nicht von sich selbst abzuwenden. Nicht im guten, nicht im schlechten. Wenn du ein Problem hast, bist du schuld. Wenn du krank wirst, stimmt deine innere Einstellung nicht. Der Blick auf die großen Zusammenhänge und Strukturen um uns herum ist tabu. Rede von dir selbst, denke über dich nach, nicht über die Welt. Frage dich, was du der Welt antust, nicht was sie dir antut. Und so erzählen wir uns alle unsere Geschichten und alltäglichen Anekdoten, wenn wir an der Elbe sitzen, und heben unseren Blick nie über den Tellerrand, was gerade wirklich passiert: Flexibilisierung, Rehabilitierung der Ausbeutung, Feier des Egoismus, Ächten des Solidaritätsgedankens; lassen uns blenden vom leuchtenden Fortschritt des Informationszeitalters, von der Aussicht, doch noch einen Platz an den Fleischtöpfen ergattern zu können.

Als ich Barac mittags in der Kantine davon erzähle, lacht er nur. Alles, was ihn an seinem Leben ankotzt, schreibt er sich selbst zu. Sicher ehrenwert. Aber so kommt er nie an den Kern dessen, was abgeht. Er lehnt sich nicht auf, weil er nicht weiß, wogegen, versteigt sich immerhin nicht zu der Behauptung, mit diesem „selbstverschuldeten“ Leben in der Warteschleife zufrieden zu sein.

Keiner von uns ist wirklich eins mit dem, was er tagaus, tagein beackert. Keiner berichtet mit Leidenschaft von seinem Tag, keiner beginnt seinen Tag mit Leidenschaft. Sondern weil es eben so ist. Und das gilt weit über die Phiesta-Gang hinaus. Ich will wissen, wo das herkommt. WAS GEHT HIER WIRKLICH AB?

Ich glaube, wir befinden uns in einer ähnlichen Situation wie 1960. Hinter uns liegt ein ungeheurer technologischer Aufbruch, vor uns eine maßlose Fortschrittsgläubigkeit - damals an die Besiedlung des Alls und die Bändigung der Naturkräfte, heute an die total vernetzte, kybernetische Welt, die den Geist von seinen körperlichen Fesseln befreien soll. Damals wie heute fehlt ein Faktor: der Mensch. Vor allem die Hunderte Millionen, die innerhalb ihrer Lebenszeit nicht mehr damit rechnen können, ins Techno-Eden zu kommen, aber davon gehört haben und sich mit ihrem Schicksal nicht abfinden werden.

Am Wochenende war ich bei der Abiturfeier meines Bruders. Viele gestelzte Reden wurden da gehalten, ungebrochene Zuversicht, mit leichter Hybris durchsetzt. Keiner stellt unbequeme, ja wenigstens nachdenkliche Fragen. So wenig Opposition war nie, nicht einmal in der Altersstufe, die sonst aus Prinzip gegen alles und jedes um sich herum opponiert.

1960 waren die 68er noch weit weg. Doch die Vorboten konnten Zeitgenossen mit einem guten Gespür nicht verborgen bleiben, die Beatniks schrieben gegen den American Dream an und einige Schwarze begannen, dem Apartheids-Wahnsinn zu trotzen. Und heute? Die Krawalle von Seattle sind ein solches Warnsignal. Eine interessante, kleine Notiz in diesem Zusammenhang, die mir nicht mehr aus dem Kopf geht: Ein alter Lehrer von mir erzählte, dass in den 11. Klassen eine unerklärliche Unruhe ausgebrochen sei. Als sei ein ganzer Jahrgang schwer erziehbar, und das an vielen Schulen. Was passiert da?

Und wann fangen wir an, über alles nachzudenken und DARÜBER ZU REDEN?

weiter am 24. juli 2000