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eintrag
boeni, im februar 2000:
- 68er 2.0 beta
-
- Wir waren aufgebrochen, als wir noch
keine Gewichte an den Füßen hatten. Ein neues
Jahrzehnt hatte begonnen, der Kommunismus war untergegangen, und
die Zukunft unmittelbar vor der Tür, ungewiß,
aufregend, definitiv gefährlich und unübersichtlich,
überschattet von der lauernden globalen Umweltkatastrophe,
die uns ein prickelndes Schaudern gab und moralische Kraft. Wir
formulierten die 98er - doch eigentlich fabulierten wir nur.
-
- 98 ist vorbei und dieses Jahrzehnt
auch. Der Schatten der Umweltkatastrophe wird längst von der
Verheißung überstrahlt, den 7. Kontinent zu besiedeln,
das neue Land der unbegrenzten Möglichkeiten - den
Cyberspace. Die Kapitalisten haben zum ersten Mal die
Revolution ausgerufen und treiben sie Tag für Tag voran.
Denn längst sind sie es, die den 7. Kontinent erobern
wollen.
-
- Die 68er erklären 68er
1.0 für gescheitert und alle weiteren Versuche eines
Updates für aussichtslos. Kommt, geht auf den großen
Cybertrek des 21. Jahrhunderts, laßt das 20. Jahrhundert
mit all seinen Exzessen Vergangenheit sein. Macht Euch nicht
lächerlich, rufen sie, wir müssen es schließlich
wissen.
-
- Und wir, mit unseren Gewichten an
den Füßen, fangen an zu glauben, daß man in
dieser realen Welt tatsächlich nur eine Chance hat, etwas zu
tun: nämlich mitzuspielen. Geht dieses Spiel nicht
kinderleicht von der Hand, wenn sich die Konten allmählich
prall füllen? Lassen diese uns nicht die einbetonierten Füße
vergessen?
-
- Sehen wir noch einmal genau hin: Ist
der Sprung in die Elite der Macher und Meinungsbildner nicht eher
ein Sprung auf den Rand des Kraters? Sicher ist dort oben - aber
was ist, wenn der Vulkan doch noch in die Luft fliegt? Ach was,
er ist erloschen, sagen die Realisten. Klar: Wenn in Osttimor, im
Kosovo, in Angola und an einigen anderen Orten der Welt Menschen
abgeschlachtet werden, sind das Nachbeben der Modernisierung.
Ganz unvermeidlich. Aber sonst brodelt da nichts. Überhaupt
nichts. Die Geschichte ist ja vorbei. Mit der Globalisierung, den
ihr zugrunde liegenden Machtstrukturen, einer Verelendung ganzer
Regionen hat das nichts zu tun. Wer in die post-industrielle
Wissensgesellschaft will, muß schnell noch durchs
militärisch-industrielle Fegefeuer.
-
- Aber was ist überhaupt die
Wissensgesellschaft? Gehört sie zu einer Vision? Oh ja, und
es sind diesmal nicht die Linken, die diese Vision haben, es sind
die Kapitalisten. Wie? Ach ja, die Ewiggestrigen und die
Modernisierer muß es heißen (dieses K-Wort ist
wirklich gräßlich).
-
- Also, die Modernisierer haben einen
Traum: Daß sie problemloser und schneller als je zuvor Geld
machen können, um damit noch problemloser und schneller Geld
machen zu können, damit sie noch problemloser und
schneller... Um mehr geht es nicht. Von geradezu buddhistischer
Schlichtheit. Whow!
-
- Und die anderen, als was auch immer
die sich bezeichnen? Die haben einen Traum und ein Alptraum: den
Traum, daß sie am Ende auch noch zu Geld und Ansehen
kommen, sich gewissermaßen noch als letzte durch die sich
schließenden Türen des Zuges quetschen - der Rest soll
halt auf den nächsten Zug warten; und den Alptraum, zu
diesem Rest gehören zu müssen. Leider vergessen sie,
daß sie nie und nimmer nicht zu denen gehören werden,
die bestimmen, wie lang der Zug ist und wohin er fährt.
-
- Ich behaupte, daß wir uns auch
alle längst an Bord wähnen. Uns an der Bordbar
vergnügen wollen.
-
- Politik? Wie langweilig STOPP
-
- Auch wenn ich 1968 erst 1 Jahr alt
war, möchte ich doch gerne versuchen kurz zu rekapitulieren,
worum es meines Erachtens ging - bei 68er 1.0:
-
Aufarbeitung von Drittem Reich und
Faschismus - heute feilscht die deutsche Industrie mit Hilfe
eines SPD-Kanzlers um die Höhe von Entschädigungszahlungen
an die letzten noch lebenden Zwangsarbeiter des Dritten Reiches
-
Antimilitarismus - heute blüht der
Waffenhandel wie eh und je, und eine rotgrüne
Bundesregierung schickt sich an, Panzer an die Türkei zu
verkaufen
-
Internationale Friedenspolitik - heute
kapituliert ein grüner Außenminister vor den
Sachzwängen der westlichen Bündnisdiplomatie, nachdem
er ganz am Anfang einmal seinen Kopf vorgestreckt hatte und die
Nato zur Aufgabe der nuklearen Erstschlagsoption aufgefordert
hatte, um dafür ordentlich eins über die Rübe zu
bekommen
-
Bildung, um alle zu mündigen
Demokraten zu machen - heute geht es um die Ausbildung zu
funktionierenden Elementen im liberalisierten, internationalen
Räderwerk, um die Ökonomisierung der Universitäten,
in der die Studenten zahlende Kunden werden
-
Entwicklung der Dritten Welt - heute
kommt der IWF und sagt: friß oder stirb, wenn
Währungen abgewertet werden und Volkswirtschaften innerhalb
von Wochen in Rezessionen stürzen, während die
korrupten, vom Westen ausgehaltenen Eliten noch schnell ihre
Schäfchen ins Trockene bringen können
Analyse ökonomischer und
politischer Strukturen, die die Umsetzung dieser Ziele behindern
- heute ist klar, daß es gerade der Kapitalismus ist, der
diese Ziele erreichen könnte, wenn er nur nicht immer von
Kritikern und Verweigerern dabei behindert würde
- Langweilig? Langweilig ist vor allen
Dingen das 68er-Bashing. Um es klar zu stellen: Wir brauchen kein
zweites 68! Aber wenn der Slogan 68er 2.0 beta
geeignet ist, Unruhe in diesem apolitischen, apathischen Land zu
schaffen - liebend gerne! Flexibilität und lebenslanges
Lernen können sich wohl kaum darin erschöpfen, den
Schranzen der globalen Business-Elite nachzueifern, weil die mit
Liebesentzug drohen.
-
- Denken wir selbst! Wieder und
wieder! Selbst! Das ist die erste und wichtigste Message von km
21.0.
-
- Ach ja: Wer will, kann von mir ein
Karl-Marx-T-Shirt bekommen. In rosa. Text: Heute ist nicht
alle Tage, ich komm wieder, keine Frage. Zum Provozieren an
der Bordbar.
weiter am
29. mai 2000 |