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boeni über sein neues leben als "ich AG", 22. oktober 2002

Ich bin jetzt ich, Nicht mehr irgendjemandes er.

Freiheit, Muße, Selbständigkeit heißt die Parole. Während Kollegen noch mit vom Entlassungsschock gezeichneten Gesichtern ins Existenzgründungsseminar kommen, zeige ich meine Begeisterung.

0. Es ist Sommer: Ich sehe nur das Positive. Stimmt irgendetwas nicht mir, frage ich mih, wenn ich sehe, wie skeptisch meine Ex-Kollegen auf meine Begeisterung reagieren.

1. Eine kleine Eintrübung nach einigen Wochen.
Mein Zeitbudget hat sich nicht verbessert. Von wegen Souveränität. Telefonieren, To-do-listen abarbeitn, die Nachrichtenlage im Web checken, Leute treffen - man will ja sein Ohr am Branchengeschehen haben - und natürlich die EIGENTLICHE ARBEIT lassen mein Pensum bei 12 h pro Tag. Aber das habe ich ja gelesen, dass man bereit sein muss, zu arbeiten, dass die Schwarte kracht.

2. Weitere leichte Eintrübung.
Ständig erwische ich mich dabei, dass ich mir über meine Produktivität Rechenschaft ablege. Plötzlich bekommen Arbeitstage einen Preis. Moment mal, sage ich mir, du willst eine Bohemien AG sein. Keep cool. Es hilft nicht. Eine Woche ist rum, ich habe jeden Tag gerödelt, telefoniert, gemailt, gelesen, gesurft, gecheckt, und herausgekommen ist ein einziger Text für eine der Tageszeitungen. Die ja ohnehin am schlechtesten zahlen.

Die Uhr tickt in mir, mein Über-Ich hat den Wecker neben mein Ich gestellt. Aufwachen! Aufwachen?

3. Unerwartete, lächerliche Eintrübung.
Der Tag ist gekommen. Ich muss zum Arbeitsamt. Aber nur um alle Formalien zu erfüllen, um mein Existenzgründungsgeld beantragen zu können. Ich habe immer gelacht über die Leute, die ein Problem mit dem Arbeitslos-SEIN haben. Aber kaum bin ich durch die Tür des Arbeitsamtes hinter dem Hauptbahnhof, befällt mich diese Krankheit. Ich gucke die Frau am Infoschalter ganz anders an. Die hat regelmäßig Geld. Die muss nicht Klinken putzen, sich den Arsch aufreißen, schießt es mir durch den Kopf. Die hat Sicherheit. Du Blödmann, denke ich, was sind das für Kategorien? Ich ignoriere sie. Es hilft nicht, in dem Bau komme ich mir wie im Krankenhaus vor. Dieselbe diskrete, gedämpfte und Unwohlsein verursachende Atmosphäre in den Linoleum-belegten Fluren.

4. Eintrübung, ganz anders.
Ein Großauftrag kommt rein. Wow denke ich erst, aber nur im ersten Augenblick. Der Tag versinkt in Arbeit. Was ich mir vorher gewünscht hatte, fühlt sich jetzt zuweilen unschön an: ich arbeite alleine, habe alle Ruhe der Welt. Zwischen Aufstehen und Schlafengehen passiert nicht mehr viel, einkaufen um die Ecke beim Spar, beim Obstladen. Von Muße keine Spur. ständig am Checken, ob entscheidende Quellen geantwortet habe. Woldo sehe ich kaum.

5. Eintrübung.
Eintrübung? Ach was, Verfinsterung. 2 Wochen Arbeit wandern in den Paperkorb. Der Auftraggeber hat es sich anders überlegt. Die Begründung ist mir nicht nachvollziehbar. Es folgen drei Tage übelster Laune. Mit Rachegelüsten, die so wohl Underdogs haben müssen. Mit existenziellen Zweifeln über den Sinn meines Berufes. Ich muss allen Ernstes gegensteuern, diese Laune kann ich nicht dulden. Sie is vor allem - UNPRODUKTIV. Denn über möglichen Fehlern zu brüten bringt kein Geld.

6. Leichte Aufhellung
Einige Tage habe ich nichts Konstruktives gemacht. Dies und das eben. Sachen, die ja auch erledigt werden müssen. Es ist Donnerstag und Woldo und ich fahren nach Berlin zur Filmpremiere eines Freundes. Die Sonne strahlt. Ohne Urlaubsantrag. Das hat doch was. Ich groove mich wieder ein, in die Arbeit, die Recherche. Der nächste Auftrag steht an. Aber es fehlt dieses Gefühl, die Welt neu schreiben zu können. Es ist schon wieder nur ein Job. Tausend Entscheidungen sind jeden Tag zu treffen. Soll ich investieren und ohne Auftrag ins Ausland fahren, um dort meinen Horizont zu erweitern? So ein Blödsinn: Früher war nicht das Geld das Problem, sondern die Zeit. Jetzt ist es umgekehrt. Die Diktatur des Entweder-Oder. Das kann doch wohl nicht wahr sein.

7. Erneute leichte Aufhellung
Ich treffe auf der Straße Noaal auf dem Weg zum Geldautomaten. Toll. Das gab es früher im Business-Ghetto in der Innenstadt nie. Wir halten ein Schwätzchen auf dem Bürgersteig. Er hat eine Woche frei, aber meint, er würde sonst auch nur noch arbeiten. Kommt mir bekannt vor.

Es ist Zeit eine Punk-Band zu gründen.

weiter am 21. november 2002